22.11.2023 | Den Unterschied macht ein Zertifikat

Was steckt hinter grünem Strom?

Viele Stromlieferanten versprechen ihn, die meisten Endverbraucher wollen ihn: erneuerbaren Strom. Doch was braucht es, damit der Strom aus der Steckdose als erneuerbar gilt? Grundlage dafür ist das sogenannte Herkunftsnachweissystem. Ein wichtiges System aber mit Verbesserungsbedarf. Die Politik hat regulatorische Änderungen angestossen, es braucht aber noch mehr Transparenz.

Damit der Strom fliesst, muss jederzeit gleich viel Strom produziert wie verbraucht werden. Das ist bei den vielen Verbrauchern und Produzenten im Stromnetz eine enorme Herausforderung. Nur mit einem sehr ausgeklügelten System und der Kombination verschiedener internationaler Kurz- und Langfrist-Märkte kann diese komplexe Aufgabe bewältigt werden. Um die Komplexität nicht noch weiter zu erhöhen, wird Strom mit einer einheitlichen ökologischen Qualität gehandelt: so gibt es an den Börsen nur «Strom», ohne einen Verweis, ob dieser jeweils aus einem Gaskraftwerk oder einer Solaranlage stammt. Auch aus physikalischer Sicht lassen sich Elektronen im Stromnetz nicht in erneuerbare und nicht-erneuerbare aufteilen. Doch was ist dann erneuerbarer Strom aus der Steckdose? Hier kommt das Herkunftsnachweissystem ins Spiel.

Herkunftsnachweise als Instrument zur Weitergabe der Stromqualität

Ein Herkunftsnachweis (HKN) ist ein Zertifikat, das bescheinigt, dass eine bestimmte Menge Strom mit gewisser ökologischer Qualität, z.B. 1 kWh Solarstrom, ins Stromnetz eingespeist wurde. Um an Verbrauchern gelieferten Strom als erneuerbar zu deklarieren, muss der Lieferant in der gleichen Menge erneuerbare HKN vorweisen können. HKN sind dabei unabhängig vom Strom handelbar. Ein Produzent könnte also beispielsweise seinen Strom an der Börse verkaufen; die zur Stromproduktion gehörenden Herkunftsnachweise könnte er dann separat an einen Lieferanten weitergeben.

Mit HKN wird erreicht, dass ein erneuerbarer Produzent die «ökologische» Qualität seines Stroms überhaupt an bestimmte Verbraucher weitergeben kann. Dies hat insbesondere zwei Wirkungen: Zum einen können Verbraucher eine gewisse Menge an erneuerbarem Strom für sich beanspruchen und damit Nachhaltigkeits- resp. Produktversprechen abgeben und erfüllen (z.B. «unser Produkt wurde mit 100% erneuerbarem Strom hergestellt»). Zum anderen erhalten erneuerbare Energien durch HKN einen höheren Marktwert als nicht-erneuerbare Energien, was Anreize für den Zubau erneuerbarer Energien liefert. Zuletzt werden HKN aber auch für regulatorische Vorgaben verwendet, z.B. müssen Lieferanten im Zuge der jährlichen Stromkennzeichnung ihren Strommix den Endverbrauchern kommunizieren.

Ein sinnvolles, aber imperfektes System

Ohne HKN wäre es also gar nicht möglich, gegenüber den Endverbrauchern eine Aussage über die ökologische Qualität des gelieferten Stroms zu machen. Schlussendlich handelt es sich aber um eine künstliche Transparenz, welche die physische Realität nur teilweise abbildet. Um die Transparenz des HKN-Systems näher an die Realität zu bringen, gibt es verschiedentlich Verbesserungsbedarf.

Erstens stellt sich die Frage nach der zeitlichen Übereinstimmung zwischen HKN und Verbrauch. Aktuell wird eine Jahresbetrachtung eingenommen. Dies bedeutet, um eine Einheit Stromverbrauch zu deklarieren, kann jeder HKN aus dem gleichen Kalenderjahr verwendet werden. Folglich lässt sich beispielsweise der Stromverbrauch eines dunklen Wintertags auch mit HKN, die aus der Produktion einer PV-Anlage an einem sonnigen Sommertag stammen, deklarieren. Das ist gerade auch vor dem Hintergrund des hohen Anteils an Stromimporten im Winter und des zunehmenden Stromüberschusses im Sommer nicht zielführend.

Zweitens führt das Fehlen eines Stromabkommens zwischen der Schweiz und der EU zu einer Inkonsistenz im HKN-Markt. Das Schweizer HKN-System ist an das der EU-Länder gekoppelt und damit internationaler Handel grundsätzlich möglich. Allerdings werden seit Juni 2023 Schweizer HKN aufgrund des Fehlens eines Stromabkommens nicht mehr in der EU anerkannt und können damit nicht mehr exportiert werden. Die Schweiz hat darauf bisher nicht reagiert und erkennt EU-HKN weiterhin an. Diese Marktasymmetrie, verbunden mit substanziellen Importen, reduziert den Wert erneuerbarer HKN im Inland.

Drittens funktioniert das System nur dann, wenn Klimaversprechen und -ziele konsequent mit entsprechenden HKN hinterlegt werden. Leider ist dies nicht überall der Fall. Beispielsweise wird Norwegen dafür kritisiert, sich politisch mit Verweis auf den Produktionspark zu 100% als erneuerbar zu präsentieren, den Grossteil seiner HKN aber zu exportieren, anstatt für die eigene Stromkennzeichnung im Inland zu verwenden (nur 30% des Verbrauchs werden mit erneuerbaren HKN deklariert). Die exportierten HKN landen dann in Ländern wie die Schweiz, wo damit Strom auf der Verbrauchsseite als erneuerbar deklariert wird.

Regulatorische Entwicklungen und weitere Verbesserungsansätze

Die Politik hat verschiedene Verbesserungen bezüglich HKN angestossen. Im September 2022 hat das Parlament den Bundesrat beauftragt die Übereinstimmungsperiode bei der Stromkennzeichnung zwischen Verbrauch und Produktion zu verkürzen. Der Bundesrat hat in der Folge per Verordnungsanpassung entschieden, dass ab 2026 der Stromverbrauch eines bestimmten Quartals nur noch mit im gleichen Quartal produzierten HKN deklariert werden kann. Perspektivisch könnte die Übereinstimmungsperiode auch noch weiter verkürzt werden, wobei sich ein Spannungsfeld zwischen mehr Transparenz und höherem administrativem Aufwand ergibt (insb. bei einer Wochen-, Tages- oder Viertelstunden-Kennzeichnung).

Zusätzlich hat das Parlament mit der Verabschiedung des sog. Mantelerlasses beschlossen, dass das Standardstromprodukt in der Grundversorgung zukünftig «insbesondere» aus erneuerbaren Energien aus dem Inland bestehen soll. Die Basis für den Nachweis werden Schweizer HKN bilden. Die Änderung kann die inländische erneuerbare Stromproduktion zukünftig stärken, bietet aber keine Lösung gegen die strukturellen Probleme im HKN-Markt (Asymmetrie mit der EU und hohe Exportquoten einiger Länder).

Grundsätzlich wäre ein internationaler Handel mit HKN gewünscht und sinnvoll – analog zum internationalen Strommarkt. Um die bestehende Asymmetrie im HKN-Markt aufzulösen, wird allerdings ein Stromabkommen notwendig sein – oder man setzt temporär auf ein ausschliesslich inländisches System. Doch auch mit einem Stromabkommen wäre wichtig, dass die EU ihrerseits Verbesserungen am HKN-System vornimmt (z.B. quartalsbasierte Stromkennzeichnung einführt) oder die erneuerbaren Ziele der einzelnen Länder konsequent am deklarierten Stromverbrauch ausrichtet.

Die wohl nachhaltigste Lösung für die Schweiz liegt schlussendlich im Kern des HKN-Systems: der Transparenz. Für Verbraucher sollte beispielsweise noch besser ersichtlich sein, welche ökologische und vor allem auch geografische Dimension ihrem Strommix zugrunde liegt. Dazu könnte beispielsweise die regulatorisch vorgegebene Tabelle zur Kommunikation des Strommixes modernisiert werden. Ein noch effektiverer Ansatz wäre schlussendlich aber die vollständige Marktöffnung, welchen den Verbraucher zusätzliche Kontrolle über ihren Stromprodukte ermöglicht und dadurch zu einer grösseren Produktevielfalt und mehr Transparenz führt.

Strommix der Schweiz

Gemäss offizieller Statistik stammt der Stromverbrauch aus Schweizer Steckdosen 2022, gemessen an den entwerteten Herkunftsnachweisen, zu 65% aus Wasserkraft, 19.6% aus Kernkraft, 13.7% aus neuen erneuerbaren Energien (PV, Wind, Biomasse etc.) und nur 1.9% aus fossilen Energieträgern. Rund 20% des Stromverbrauchs (resp. 1/3 der Wasserkraft) wurden mit ausländischen Wasserkraft-HKN deklariert, u.a. aus Norwegen, Frankreich und Schweden.

Ein vereinfachtes Beispiel

Die Funktionsweise von HKN lässt sich an einem vereinfachten Beispiel verdeutlichen. Angenommen es gibt ein Stromsystem mit zwei Produzenten, ein Gaskraftwerk und ein Wasserkraftwerk mit je 50 MWh Jahresproduktion, und zwei Verbraucher mit je 50 MWh Konsum. Wenn Strom in einheitlicher Qualität gehandelt wird – oder auch aus physikalischer Sicht - erhalten beide Verbraucher den gleichen Strommix aus dem Netz, also 50% erneuerbarer und 50% fossiler Strom. Wird die Weitergabe der «ökologische» Qualität des Wasserkraftwerks per HKN ermöglicht, so lässt sich diese gezielt auf die Endverbraucher aufteilen. Einer der Verbraucher könnte somit dem Wasserkraftwerk die HKN abkaufen und dürfte in der Folge den Stromverbrauch als erneuerbar deklarieren. Der andere Verbraucher würde dann fossilen Strom beziehen.

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