Am 14. Mai 2025 präsentierte Bundesrat Albert Rösti die sogenannten flankierenden Massnahmen – gesetzliche Anpassungen, die dabei helfen sollen, die vollständige Marktöffnung sozialverträglich und politisch tragfähig zu gestalten. Diese Massnahmen spiegeln grösstenteils Anforderungen wider, die aus dem EU-Rechtsbestand im Strombereich – dem sogenannten „acquis communautaire” – resultieren.
Mit dem angestrebten Stromabkommen sollen die Strombeziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) neu geregelt werden. Dabei geht es nicht nur um die Fortsetzung der technischen Integration des Schweizer Stromnetzes in das kontinentaleuropäische Verbundnetz, sondern auch um marktwirtschaftliche, sozialpolitische und institutionelle Fragen.
Kernstück des möglichen Stromabkommens ist die vollständige Öffnung des Schweizer Strommarkts. Künftig sollen alle Stromkundinnen und -kunden in der Schweiz ihren Anbieter frei wählen können. Haushalte und kleinere Unternehmen mit einem Jahresverbrauch unter 50 MWh können jedoch in der regulierten Grundversorgung bleiben, sofern sie keinen Anbieterwechsel vornehmen. Auch eine Rückkehr in die Grundversorgung soll möglich sein; der Bundesrat will dabei unterjährige Wechsel erlauben, allerdings gegen Entschädigung der damit einhergehenden Beschaffungsrisiken für Versorger.
Am 14. Mai hat sich der Bundesrat mit der Umsetzung des geplanten Stromabkommens zwischen der Schweiz und der EU befasst. Folgende Massnahmen sollen die Auswirkungen des Stromabkommens auf Haushaltskunden, Kleinstverbraucher und die Mitarbeitenden der Stromwirtschaft abfedern:
Einführung eines Vergleichsportals für Stromlieferverträge.
Schaffung einer Ombuds- bzw. Schlichtungsstelle, die Meinungsverschiedenheiten aussergerichtlich lösen soll.
Mindestanforderungen an den Inhalt von Stromlieferverträgen, beispielsweise hinsichtlich Leistungen, Qualität, Tarife, Vertragsdauer, Kündigungsmodalitäten, Haftung oder Streitbeilegung.
Stromlieferanten müssen sich bei der ElCom registrieren, ein Risikomanagementsystem unterhalten und über einen Kundendienst in der Schweiz verfügen.
Schnellstmögliche Durchführung von Lieferantenwechseln; in der EU muss dieser neu innerhalb von 24 Stunden an jedem Werktag erfolgen.
Lieferanten mit über 50 000 Kunden müssen sowohl Stromlieferverträge mit dynamischen Preisen als auch Festpreisverträge anbieten.
Die ElCom wird mit der Beobachtung der wirtschaftlichen Entwicklung des Strommarkts für alle Endverbraucher in der Grundversorgung beauftragt. Bei Bedarf soll sie dem Bundesrat Anpassungen der Regulierung des Strommarkts oder der Grundversorgung vorschlagen.
Die vorgenannten Massnahmen sind entweder Teil des „acquis communautaire” oder werden in der EU standardmässig angewandt; es handelt sich insofern um kein „Swiss Finish”.
Angesichts des Fachkräftemangels in der Strombranche sieht der Bundesrat keine Risiken für eine Verschlechterung der Beschäftigungsverhältnisse im Zusammenhang mit der Marktöffnung. Zudem hat die Marktöffnung nach Ansicht des Bundesrats in der EU nicht zu negativen Entwicklungen geführt. Trotzdem soll die ElCom ein Monitoring der Beschäftigungsverhältnisse in der Strombranche einrichten. Im Falle negativer Entwicklungen soll der Bundesrat Gegenmassnahmen ergreifen. Die EU-Gesteztgebung zum EU Strombinnenmarkt sieht keine vergleichbaren Massnahmen bzw. Kompetenzen für die Energieregulierungsbehörden vor.
Anlässlich der Medienkonferenz am 14. Mai wurden auch der Heimfall bzw. die Vergabe von Konzessionen zum Betrieb von Wasserkraftwerken thematisiert: Gemäss BFE ist auch weiterhin eine freihändige Vergabe von Konzessionen durch die Eigentümer (Kantone) möglich.
Bereits vor der geplanten Veröffentlichung der Vernehmlassungsunterlagen hat der Bundesrat beschlossen, allen Mitgliedern der Bundesversammlung auf Anfrage und auf vertraulicher Basis Einsicht in die Abkommenstexte zu gewähren. Damit reagierte er auf Kritik an einer Ungleichbehandlung zwischen einzelnen Mitgliedern der Bundesversammlung. Mitgliedern des Europäischen Parlaments war bereits von der Europäischen Kommission Einsicht in die Abkommenstexte gewährt worden.
Die Abkommenstexte wurden am 21. Mai 2025 von den Chefunterhändlern der Schweiz und der EU paraphiert und liegen nun in der finalen Version vor. Die Eröffnung der Vernehmlassung wird für Mitte Juni 2025 erwartet und könnte drei Monate dauern. Dabei werden die englischen Abkommenstexte sowie die geplanten Gesetzesänderungen in den drei Amtssprachen veröffentlicht. Nach der Vernehmlassung folgt in 2026 die Behandlung im Parlament. Das Stromabkommen soll gemäss Bundesrat als separate Vorlage dem fakultativen Referendum unterstellt werden, das Parlament könnte dies aber noch anders entscheiden. Sollte das Stromabkommen den politischen Prozess überstehen, könnte es Anfang 2030 in der Schweiz in Kraft treten. Bis dahin gelten Übergangsregelungen, z. B. für den sicheren Netzbetrieb zwischen Swissgrid und den Übertragungsnetzbetreibern in der EU.
Offen – und wenig beachtet – ist die Frage, ob das Abkommen auch den Parlamenten der EU-Mitgliedstaaten zur Abstimmung vorgelegt werden muss, oder ob allein der Rat bzw. die EU-Mitgliedsstaaten entscheiden, wovon überwiegened ausgegangen wird. In der Vergangenheit war es hier zu aus der Sicht der EU unliebsamen Überraschungen gekommen, so z. B. 2016, als das wallonische Parlement gegen das Freihandesabkommen der EU mit Kanada (CETA) stimmte.
Parallel zur Schweiz versucht auch das Vereinigte Königreich, seine Beziehungen zur EU auf eine neue Grundlage zu stellen. Das Vereinigte Königreich war am 31. Januar 2020 aus der EU ausgetreten. Am 19. Mai haben das Vereinigte Königreich und die EU ein entsprechende Absichtserklärung unterzeichnet („Common Understanding”), die auch Kapitel zur Energie- und Klimapolitik beinhaltet:
Das „Common Understanding” orientiert sich teilweise am Stromabkommen Schweiz-EU, beispielsweise im Hinblick auf die dynamische Rechtsübernahme des relevanten «acquis communautaire» und bezüglich der abschliessenden Rolle des EuGH bei der Auslegung von EU-Recht.
Auch die geplante Kopplung der Emissionshandelssysteme zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU soll an klare Bedingungen geknüpft sein. Neben der dynamischen Rechtsübernahme soll das Vereinigte Königreich den EuGH als Auslegungsinstanz für EU-Recht anerkennen. Die Schweiz hingegen konnte 2017 ihr eigenes Emissionshandelssystem mit dem EU-Emissionshandelssystem koppeln, ohne diese Bedingungen akzeptieren zu müssen.
Umgekehrt könnte dem Vereinigten Königreich der Zugang zum EU-Strombinnenmarkt gewährt werden, ohne dass die EU auf Personenfreizügigkeit zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich besteht. Die Personenfreizügigkeit ist sowohl in der Schweiz als auch im Vereinigten Königreich einer der politisch heikelsten Aspekte der EU.
Die Kopplung der Emissionshandelssysteme von Schweiz und EU ist das Resultat jahrelanger diplomatischer Arbeit: Die Verhandlungen begannen 2008, das Abkommen wurde 2017 unterzeichnet und trat 2020 in Kraft – nach fast zwölf Jahren. Auch beim Stromabkommen zwischen der Schweiz und der EU reichen die Anläufe weit zurück: Erste technische Gespräche starteten bereits 2007, Verhandlungen auf politischer Ebene laufen seit über einem Jahrzehnt. Für das Vereinigte Königreich ist ein ähnlicher Zeithorizont realistisch. Die vollständige Anbindung an den Stromhandel sowie eine CBAM-Ausnahme durch die Kopplung der Emissionshandelssysteme dürften auch für das Vereinigte Königreich noch mehrere Jahre in Anspruch nehmen.
Die Schweiz strebt die volle Integration in den EU-Strombinnenmarkt an. Wie das Beispiel der Schweiz und des Vereinigten Königreichs zeigen, gewährt die EU Marktzugang jedoch nur gegen institutionelle Zugeständnisse. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob die veränderten geopolitischen Verhältnisse eine neue Dynamik bei der EU-Integration auslösen, oder ob andere Formen der Zusammenarbeit – beispielsweise im Rahmen der Europäischen Politischen Gemeinschaft (European Political Community) oder der NATO – diese ablösen werden. Dieses neue Narrativ der Zusammenarbeit zu Verteidigungszwecken könnte die Integration über den EU-Binnenmarkt als Wohlstandsförderungsprojekt ersetzen.